Als ich kürzlich auf einer Bank saß und mit geschlossenen Augen die Sonne genoss, vernahm ich intensive Gespräche von Spaziergängern, die die momentane Situation erörterten. Ganz offensichtlich, bewegt uns alle diese Thematik sehr, denn meist landen die Gespräche unweigerlich bei den aktuellen Herausforderungen.
Doch im Moment gibt es selten einen friedlichen Gedankenaustausch, sondern sehr heftige Diskussionen und unterschiedlichste Vorstellungen über den einzig richtigen Umgang mit der aktuellen Lage. Gerade innerhalb von Familien und im Freundeskreis prallen oft sehr konträre Einstellungen aufeinander und ich muss zugeben, dass es auch mir manchmal äußerst schwerfällt gelassen zu bleiben, besonders dann, wenn Argumente eine moralische Färbung bekommen.
Dabei hat im Grunde jeder den Wunsch in seiner Haltung und seinen Entscheidung bestätigt zu werden, sich damit gut zu fühlen und zu einer inneren Sicherheit zu gelangen. Dieses Bedürfnis nach Bestätigung ist so groß, da Sicherheit eines unserer Grundbedürfnisse ist. So kommt es oft zu starken Konfrontationen. Doch so sehr wir uns auch Gleichgesinnte wünschen, letztendlich muss jede*r für sich eine Lösung finden und eine Entscheidung treffen, mit der sie leben und die Verantwortung übernehmen kann.
Gerade ein konstruktiver Meinungsaustausch ist dabei einer der wichtigsten Faktoren – sei es unter Wissenschaftlern, Politikern, Journalisten-, doch ebenso im privaten Kreis. Es ist schwer, in der Flut von Informationen unseren eigenen Standpunkt zu finden. Nur, wenn wir uns auch andere Meinungen anhören und darüber sprechen können, ohne sofort in eine Angriffs- oder Verteidigungshaltung gehen zu müssen, ohne Andersdenkende zu zensieren, ergibt sich ein vollständigeres Bild. Unabdingbar in einer Situation, die für uns alle neu ist und keiner, wirklich keiner weiß, wie sich die Lage weiter entwickeln wird.
Wenn wir uns jedoch in Frage gestellt und unter Druck fühlen, kommen wir in Stress und können nicht mehr angemessen reagieren. Nur allzu schnell rutschen wir in das automatische Stressmuster der Fixierung, unsere Augen werden starr, unsere Muskeln spannen sich an und wir sind ganz darauf fokussiert, uns zu verteidigen und den anderen von der Richtigkeit unserer Meinung möglichst schnell zu überzeugen.
Doch, wie schaffen wir es, einerseits den Wunsch nach Bestätigung zu befriedigen und andererseits, selbstkritisch bzw. kritisch zu bleiben und eine eigenständige Position zu bewahren? Wir werden ständig von unendlich vielen Informationen geflutet, die oft sehr gegenteilige Botschaften beinhalten und die uns ständig zwingen, sie zu sortieren und neue Informationen zu integrieren. Dabei treffen wir in Bruchteilen von Sekunden unbewusst die Entscheidung, was für uns relevant ist.
Das passiert auf der Instinktebene, da bei Gefahr eine schnelle Reaktion überlebensnotwendig ist. Bei sogenannten Triggern, wie Gerüchen, Gesten, bedrohlichen Nachrichten, Bildern oder Situationen, die uns an etwas erinnern, das wir in der Vergangenheit als gefährlich in unserem Zellgedächtnis abgespeichert haben, reagiert unser emotionales Gehirn mit entsprechenden Körpermustern und Gefühlen, die der Verstand wiederum in Handlungen umsetzt. Diese Automatismen helfen uns, nicht alles neu überdenken zu müssen. Es sind oft sehr gute Entscheidungen aus dem Bauch heraus, die nicht von rationalen Überlegungen überlagert, sondern von uns instinktiv getroffen werden. Doch genauso oft sind sie nicht wirklich zielführend, da sie sich auf alte Erfahrungen beziehen.
Doch wie kommen wir jetzt zu stimmigen Entscheidungen? Angst ist auf jeden Fall ein schlechter Ratgeber.
Jede Bewertung einer aktuellen Situation wird gespeist von unseren Kindheitserlebnissen, unseren Erfahrungen im Mutterleib und von denen unserer Vorfahren. Sie färben unsere Reaktionen und unser Verhalten. Es ist wichtig, sich diese Tatsache immer wieder vor Augen zu halten.
Wie gesagt: Oft profitieren wir von diesen Mechanismen, die unser Gehirn vor Überlastung schützen. Doch sie können uns auch große Fallen stellen. So hat meine Generation bereits in frühester Kindheit die schrecklichen Auswirkungen von Contergan, einem angeblich ganz harmlosen Beruhigungsmittel, miterlebt. Als Kind wurde mir dieses Medikament verschrieben, da ich als Dreijährige unruhig schlief. Auch meine Mutter bekam Contergan in der Schwangerschaft mit meiner Schwester. Wir hatten das große Glück, dass die Einnahme dieses Medikaments nur in einem bestimmten Zeitraum der Schwangerschaft seine verheerende Wirkung entfalten konnte und meine Schwester gesund auf die Welt kam. Trotzdem sitzt dieser Medikamentenskandal bei mir, wie auch bei vielen meiner Klienten, als kollektives Trauma tief in unserem Zellgedächtnis.
Das heißt diese Generation, die das so hautnah miterlebt hat, wird möglicherweise medizinischen Neuentwicklungen mit größerer Zurückhaltung begegnen als jüngere Menschen. Auch die tödliche Seuche der achtziger Jahre „Aids“ hat viele Menschen dahingerafft und ist deshalb in unserem kollektiven Gedächtnis gespeichert. Diese Erinnerung ist verbunden mit dem schrecklichen Verlust vieler Freunde, mit extremen Gefühlen von Verunsicherung und Kontrollverlust. Damals gab es lange Zeit keine wirksamen Mittel und die Möglichkeiten sich zu schützen waren anfangs unbekannt. Darüber hinaus sind auch lange zurückliegende Seuchen, wie die spanische Grippe und die Pest, in unserem kollektiven Gedächtnisspeicher präsent.
Diese Dramen, diese Seuchen, denen viele Menschen unter schrecklichsten Bedingungen zum Opfer fielen, haben uns wiederum alle in irgendeiner Form geprägt und haben unsere Haltung und Bewertung beeinflusst. Deshalb begrüßen viele die staatlichen Maßnahmen und glauben nur allzu gern an Verordnungen und Impfungen, die uns tatsächlichen oder scheinbaren Schutz geben sollen.
Doch auch jetzt, in der aktuellen Situation, werden unsere Reaktionen und Bewertungen von alten, individuellen Erfahrungen und mehr oder minder unbewussten Überzeugungen gefüttert.
Entscheidungen, wie ich mit meinem Körper umgehe, welcher Medizin ich vertraue, welche Unterstützung ich wähle und in welchem Kontext, sind immer ganz individuell und können nur aus der persönlichen Geschichte jedes Einzelnen heraus verstanden werden. Deshalb sollten wir, immer auch bei uns selbst, nicht nur bei den Anderen, überprüfen und schauen, was hat mich in diese Haltung gebracht, welche tiefen Ängste sind mit ihr verbunden, welche frühen Erfahrungen haben mich diesbezüglich geprägt. Dabei können Gespräche und ein wertschätzender Meinungsaustausch eine große Hilfe sein.
Erst wenn sich jede und jeder dieser alten Belastungen bewusst wird und sie dadurch auch ein Stück in sich heilt, können wir im Hier und Jetzt stimmige Entscheidungen treffen. Erst dann sind wir fähig, unsere Haltung immer wieder anzupassen und Andersdenkenden ihre Entscheidungen zuzubilligen, auch wenn sie von unserem Standpunkt gesehen schwer verständlich sein mögen.
Wenn wir das momentane Geschehen versuchen neutraler zu sehen und jeden in seiner Individualität wertzuschätzen, gelingt es uns leichter unterschiedliche Lösungsansätze und Entscheidungen, in Zeiten großer Herausforderungen, zu akzeptieren. Wir können dann in einen konstruktiven Dialog gehen und uns die Zeit nehmen, die Hintergründe des Einzelnen zu erfahren. Dann wird es möglich gemeinsam die Thematik zu erörtern und zu erforschen, ohne uns von der Meinung des anderen in die Ecke gedrängt zu fühlen oder zu meinen, den anderen in eine bestimmte Richtung abstempeln zu müssen.
Mit Neurobiologischem Stressmanagement können wir gerade jetzt unseren persönlichen Stress abbauen, uns wieder sortieren und neu ausrichten. So gelingt uns immer besser alte Ängste, Bewertungen und Glaubenssätze, die uns in fixierten Mustern gefangen halten, ans Licht zu holen. Wenn wir sie als sinnvolles, aber veraltetes Schutzmuster der Vergangenheit wertschätzen, können wir sie entlassen und wieder eine neue Wahl für uns treffen.
Dann können wir Entscheidungen treffen, hinter denen wir wirklich stehen, deren Konsequenzen wir bereit sind zu tragen und für die wir uns vor keinem glauben rechtfertigen zu müssen. Daraus entsteht eine inneren Sicherheit mit der es uns gelingt, in großer Gelassenheit, auch andere Meinungen zuzulassen und gemeinsam tragfähige und nachhaltige Lösungen zu suchen und zu finden.