Immer öfter wird die Forderung laut solidarisch zu sein. In München wurde dieser Begriff jetzt in Leuchtschrift auf das Rathaus projiziert. In der Tat Solidarität hat einen hohen ethischen Wert. Dennoch stellt sich dabei immer die Frage: Wer fordert sie ein, welches Motiv steckt dahinter und wofür oder mit wem sollen wir solidarisch sein?
Der Begriff „Solidarität“ wird als eine Kraft definiert, die über den Eigennutz und persönlichen Vorteil hinausgeht. Moral spielt dabei ebenfalls eine große Rolle. Doch mit wessen Moralvorstellungen sollen wir uns solidarisch erklären?
Für die Entscheidung, uns mit Menschen, Gruppen oder Zielen zu solidarisieren, sind immer auch unsere inneren Werte und Vorstellungen, unsere moralischen Grundsätze und nicht zuletzt auch unsere unbewussten Überzeugungen ausschlaggebend. Oft sind uns diese inneren Werte nicht wirklich bewusst, sondern wir fühlen eine spontane Verbundenheit, den Wunsch uns für etwas einzusetzen, das uns wichtig ist. Dies kann sich in spontanen Handlungen äußern, z.B. wenn wir einem Menschen zu Hilfe eilen, der in Gefahr ist. In diesem Moment steht für uns die Verbundenheit und Empathie mit dem Opfer über dem Eigenschutz, denn wir riskieren, im schlimmsten Fall, eine Bedrohung von Leib und Leben.
Doch auch wenn es nicht um Leben oder Tod geht, kann Solidarität viel Mut erfordern. Zeigen wir uns solidarisch mit Ausgegrenzten, z.B. mit einem Mobbingopfer, kann das auch uns aus der Gemeinschaft katapultieren. Insgeheim bewundern wir zwar Menschen, die den Mut finden sich für andere einzusetzen. Auch wenn wir selbst nicht mit der Situation einverstanden sind, ist es für uns oft leichter wegzuschauen und das Unrecht zu ertragen, als sich den eigenen Ängsten zu stellen und die eigene Meinung zu vertreten.
Zu groß ist die Gefahr selbst zum Opfer zu werden, ausgeschlossen zu werden. Unbewusst wissen wir, dass Solidarität gefährlich werden kann. Wenn wir uns zeigen, stellen wir uns möglicherweise gegen die Mehrheit und brauchen Mut und Standhaftigkeit, um zu unserer Haltung zu stehen.
Grundsätzlich wird unsere Bereitschaft solidarisch zu sein immer dann auf die Probe gestellt, wenn unsere Werte in Frage gestellt werden. Wir riskieren viel, wenn wir uns für sie einzusetzen. Es besteht immer die Gefahr auf Unverständnis und Abwertung zu stoßen oder möglicherweise noch schlimmere Reaktionen, wie Ausgrenzung und Schuldzuweisungen, ertragen zu müssen .
Viel leichter fällt es uns solidarisch zu sein, wenn die überwiegende Mehrheit der gleichen Meinung ist, wenn wir uns moralisch akzeptiert fühlen und unsere Überzeugungen sanktioniert werden. Noch leichter ist es, wenn sogar Vorteile aus dieser persönlichen Haltung für uns erwachsen. Doch auch diese scheinbar komfortable Situation fordert ihren Preis. Oft müssen wir eigene Unsicherheiten und Zweifel unterdrücken, um weiterhin akzeptiert zu werden. Umso unangenehmer kann es sich anfühlen, wenn Menschen sich trauen ihre Bedenken zu äußern und uns dadurch mit diesen unterdrückten Gefühlen wieder konfrontieren.
Als Abwehrreaktion kommen uns dann moralische Argumente gerade recht. Dass es auch solidarisch gegenüber einer Gesellschaft sein kann, Bedenken zu äußern, Fehlentwicklungen anzuprangern und sich für ehemals hohe Werte einzusetzen wird ausgeblendet. Denn herausfordernde Situationen können große Angst in uns auslösen. Dieser extreme Stress kann dazu führen, dass wir nur noch das als richtig wahrnehmen, was unseren eigenen Überzeugungen und unserer vermeintlichen Sicherheit dient. Alles andere wird bekämpft.
Der eigene Schutz, das weiß jeder Ersthelfer, steht an erster Stelle und hat nichts mit Eigennutz zu tun. Persönliche Entscheidungen von Menschen mit berechtigten Befürchtungen im Hinblick auf ihr gesundheitliches Risiko müssen respektiert werden. Sie dürfen nicht als egoistisch oder unsolidarisch diffamiert werden. Sie aus solidarischen Gründen zwingen zu wollen ihre Gesundheit aufs Spiel zu setzen, kann keine gute Strategie sein, um das Ziel des Gemeinwohls zu erreichen.
Doch statt in einen Dialog zu gehen und gemeinsam einer Herausforderung zu begegnen, reklamiert und definiert jeder Solidarität gemäß seinen ureigensten Werten und Vorstellungen. Was nützt es uns jedoch uns gegenseitig anzuklagen und zu bekämpfen? Viel zielführender wäre es für uns alle, wenn wir uns gerade dann wieder auf uns selbst besinnen würden. Besser als uns von allen Seiten in Angst und Schrecken versetzen zu lassen, wäre es wieder auf unsere innere Stimme zu hören und unserem Bauchgefühl zu trauen. Wir könnten uns für das einsetzen, was sich für uns persönlich wirklich stimmig anfühlt und eine neue Sicherheit in uns etablieren, die von den Meinungen anderer unabhängig ist. Doch das kann jeder nur für sich selbst erreichen, indem er sich mit seinem persönlichen Stress und seinen Ängsten auseinandersetzt.
Wenn wir andere nicht mehr überzeugen müssen, können Gleichgesinnte, aber auch Andersdenkende, für uns eine echte Bereicherung sein.
Solidarisch zu sein kann niemals bedeuten, die eigenen Werte zu verraten und sich selbst aufzugeben. Wenn das gefordert wird, sollten wir uns verweigern. Auch Solidarität hat ihre Grenzen wenn sie in blinde Loyalität mündet.
Diese Freiheit sollten wir uns selbst, aber auch unseren Mitmenschen zugestehen. Statt leerer Parolen von Demokratie und Solidarität, sollten wieder Menschlichkeit, Mitgefühl, Verbundenheit und Selbstverantwortung unsere Leitlinien sein.
Jede und jeder Einzelne ist aufgefordert, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen und andere Meinungen und Haltungen zu akzeptieren. Wenn wir wieder die Einzigartigkeit jedes Menschen wertschätzen und das große Potential anerkennen, das in unserer Unterschiedlichkeit steckt, haben wir beste Voraussetzungen auch bei größten gesellschaftlichen Herausforderungen gute und tragfähige Lösungen zu entwickeln.